Jüdisches Lexikon

 

 

ZINS

1. Die Zinsnahme nach dem jüdischen Religionsgesetz.

a) In der Bibel. Bereits die Assyrer und Babylonier kannten eine Verzinsung des Geldes, und die Hebräer lernten sie aus ihrem frühen Handelsverkehr mit diesen Nachbarvölkern kennen. Als Landwirtschaft treibendes Volk sahen die Hebräer es jedoch als unmoralisch an, sich ohne Mühe und Arbeit durch bloßes Verleihen von Geld oder Nahrungsmitteln einen materiellen Vorteil zu verschaffen. Das durch Verkauf der Überschüsse der Wirtschaft gewonnene Geld sollte dem Bauer ausschließlich zur Stärkung seiner eigenen Wirtschaft oder eventuell für zinslose Darlehen an unbemittelte Mitbürger dienen. Nur im Geschäftsverkehr mit Nichtjuden sollte das Geld den Charakter einer Ware haben und als Einnahmequelle dienen (Deut, 23, 21).

Mit der allmählichen Entwicklung der Geldwirtschaft bei den Israeliten wich aber die Praxis leilweise von der Gesetzgebung ab. Das Verleihen von Geld an die unbemittelte Bevölkerung, sogar gegen hohe Zinsen, wurde allmählich zu einer üblichen Erscheinung, die freilich durch die späteren Propheten (bes. Ez. 22, 12) scharf ge­geißelt wurde. Auch die Papyri von Elephantine enthalten Angaben über Zins und Zinseszinsen.

b) Im Talmud. Die knappen biblischen Be­stimmungen über das Zinsverbot (Ex. 22, 24; Lev. 25, 35‑37; Deut. 23, 20‑21) wurden in der talmudischen Gesetzgebung teils auf dem Wege der Interpretation, teils durch die Praxis erweitert. Auch nach talmudischer Rechtsanschauung ist jede Zinszahlung und Zinsnahme unzulässig. Hierbei gelten als Zinsen nicht nur die, die in der Darlehensurkunde ausdrücklich festgesetzt wer­den, sondern auch jeder andere bei einem Handelsgeschäft nicht im voraus ver­einbarte Vorteil, der dem Gläubiger zufällt.

Die Form, in der die Zinsen gezahlt oder ver­sprochen werden oder der zinsartige Vorteil er­zielt wird, ist dabei gleichgültig. Man unterscheidet nämlich a) Zinsen im barem Geld, b) Zinsen in Geldwert, c) Zinsen durch Arbeitsleistung. Eine besondere Art der zinsartigen Leistungen sind die Zinsen durch Worte oder Taten, die dem Gläubiger keinen materiellen Vorteil, sondern bloß eine moralische Genugtuung (z. B. eine Schmeichelei) bringen.

Wer Geld auf Zinsen verleiht, ist daher zum Richteramt und zum Zeugenbeweis unfähig, und die bei einem Darlehen festgesetzten und ge­zahlten Zinsen können zurückgefordert werden. Eine Darlehensurkunde, in der Zinsen vereinbart werden, ist gesetzlich ungültig. Als mitbeteiligt an der ungesetzlichen Handlung gelten außer dem Zinszahler und Zinsempfänger auch die am Rechts­geschäft beteiligten Vermittler, Zeugen, Bürgen und Urkundenschreiber.

Nicht verboten waren nur:

a) die Verleihung des Vermögens des Tempels, um diesem Zinseinnahmen zu sichern.

b) Zinsartige Vorteile, die auch sonst durch den Eigentümer unentgeltlich überlassen zu werden pflegen.

c) Darlehen gegen eine Hypothek, bei der der Gläubiger die Nutznießung am hypothekarischen Grundstück hat und den Wert derselben von der Grundschuld abrechnet.

Im Gegensatz zu den Kapitalzinsen ist der Pacht‑ und Mietzins nach jüdischem Recht als gesetzliche Gegenleistung erlaubt und war eine übliche Er­scheinung bereits seit der frühen Mischnazeit. Dabei wurden Häuser gegen Barzahlung, Gärten und Felder auch gegen ein festgesetztes Quantum von Obst und Getreide oder gegen einen bestimmten Prozentsatz der ge­samten Ernte verpachtet.

c) Nachtalmudische Zeit. Mit der Ent­wicklung des Geldhandels unter den Juden musste ein Weg gefunden werden, um das Verleihen von Geld gegen Zinsen zu rechtfertigen. Um das biblische Zinsverbot formell nicht umzustoßen, wurde jedem Darlehen als Fiktion ein Geschäftsvertrag zwischen Gläubiger und Schuldner zugrunde gelegt. Das Geld wurde danach gewissermaßen zur Durchführung eines Geschäftes gegeben, in dem der Gläubiger als mitbeteiligt galt, und der Zinszuschlag zum Grundkapital wurde ihm dann fiktiv als Teil der Geschäftseinkünfte zurückerstattet. Dieses Verhältnis wurde in einer speziellen Urkunde festgelegt.

2. Die Zinsgeschäfte der Juden im Mittelalter.

a) Das Zinsverlangen wurde im MA, je seltener das Kapital war, desto mehr als strafbarer Wucher (hinterlistige Ausbeutung) betrachtet. Der Zins überhaupt, nicht nur ein hoher Zins, galt insbesondere unter dem Einfluss des auf die Bibel gestützten kirch­lichen Zinsverbotes als Wucherzins (Zinswucher, Geld­wucher). Bei der oft großen Not des abhängigen Volkes ‑("arme Leute" genannt im Gegensatz zu den Ständen als den herrschenden Klassen) erschien die Gewährung eines verzinslichen Darlehens leicht als Ausbeutung einer Notlage. Die Leihkapitalnutzung sollte unentgeltlich gegeben werden, unter der stillschweigenden Bedingung der Gegenseitigkeit. Das unverzinsliche Darlehen als Resterscheinung des "Urkommunismus" (z. B. gemeinsame Bearbeitung des Bodens durch die Sippe, namentlich bei den Kelten) war die dritte Wurzel des Zinsverbotes. Solche Wirtschafts­gesinnung ist aber, wie der Kommunismus überhaupt, endogen, sie gilt nur unter Volksgenossen, der Fremde ist an sie nicht gebunden. Da nun die Juden im MA Fremde waren, unter Ausnahmerecht lebten, bezog sich das Zinsverbot auf die Juden nicht (Judenwucher). Inwieweit dies gesetzlichen Nieder­schlag gefunden hat, ist bestritten, für die Tatsache selbst aber gleichgültig, da sich das Zinsverbot nicht streng durchführen ließ, weil das Wirtschaftsleben sich nicht meistern lässt, so war der Judenwucher geduldet.

Das Privileg des Judenwuchers bildete im späten MA zwar die Hauptgrundlage der wirtschaftlichen Existenz der Juden, aber auch eine Hauptursache ihrer Leiden. Der Gegensatz zwischen Juden und Christen war nicht nur ein religiöser oder Rassen­gegensatz, sondern auch ein sozialer Gegensatz und führte zu sozialen Revolutionen. Solche soziale Revolutionen waren die meisten Judenverfolgungen, namentlich des späteren MAs, wobei der religiöse Hintergrund der Judenverfolgungen nicht bestritten werden soll.

Nachdem das verzinsliche Darlehen sich einge­bürgert hatte und juristisch keinen Einwendungen mehr begegnete, änderte sich der Begriff Zinswucher. Wucher war nun: 1. die Überschreitung der Zinstaxen; denn wenn es auch gestattet war, Zinsen zu nehmen, so war die Höhe des Zinses durch Gesetz oder Obrigkeit beschränkt; 2. die Verschleierung des Zinses, also Umgehung der Zinstaxen.

b) Die Bedingungen, unter denen die Juden im MA verzinsliche Darlehen gewährten, waren folgende: 1. Der Zins war sehr hoch, sowohl nach den gesetzlichen Bestimmungen (z. B. die Woche 2 Pf. für das Pfund Pfennige, also ca. 43 %), als auch der tatsächliche, gebräuchliche (50 % in Deutschland im 11.‑12. Jhdt.). 2. Die Darlehensfrist war kurz: eine Anzahl Wochen, Monate. Daher wurde der Zins nach Wochen berech­net. Die Darlehenssumme war natürlich verschieden, je nach der Schuldursache und der Schuldnerkategorie, beim Adel höher als bei der Bürgerschaft. In Frankfurt a. M. waren 1391 z. B. unter 232 Forderungen die 9 höchsten solche im Betrage von je zwischen 200 und 1000 fl. 4. Die Darlehen waren fast ausnahmslos mit Sicherheit versehen. Was die Sicherungsmittel betrifft, so kamen zwar Satzung (Immobiliarbesitzpfand) und Einlieger vor (hauptsächlich bei Darlehen an Adelige mit größeren Summen), auch die gewöhnliche Schuldverschreibung (mit Bürgschaftsbestellung) war gebräuchlich, aber überwiegend war doch die Sicherstellung durch Faustpfand, namentlich bei mittleren und kleineren Schulden und Schuldnern. Verpfändet wurde alles, „vom Helm bis zum Wappenschild, vom silbernen Kreuzlein und der vergoldeten Kette bis zum grauen Mantel und dem schlichten Leintuch der Hausfrau. Mit dem Leihen auf Pfand fing gewöhnlich der ärmere Jude sein Geschäft an, um später, wenn er zu Vermögen gekommen, zu Briefdarlehen (Bürgschaftskredit) und Immobiliarkredit überzugehen“.