Marcus Cohn

 

 
Marcus Cohn - Anwalt der gerechten Sache

 

Austrasse 16 - ein bescheidenes Anwaltsbüro in Basel. Aber die Geretteten, die sich während der Kriegsjahre aus allen Ländern Europas vom besetzten Holland bis Rumänien, vom Lager in Gurs, von Theresienstadt, von Bergen-Belsen, von Budapest, von Westerborg, von Drancy bei Paris an die Austrasse 16 gewandt hatten, erzählten später, sie hätten sich vorgestellt, dass an dieser Adresse eine weltumspannende Hilfsorganisation ihren Zentralsitz hat. Keiner hatte es auch nur für möglich gehalten, dass all diese umfassende Hilfsarbeit ausschliesslich von der tätigen Menschenliebe eines einzigen Menschen diktiert war, der aus eigener Initiative ein solches Werk vollbrachte. Immer unterstützt von seiner Gattin Rose Cohn - die in ergebener Liebe ein Leben lang an seiner Seite war.

Theodor Herzl hatte Basel für die ersten Zionistenkongresse ausgewählt, weil dort Rabbiner Dr. Arthur Cohn wegen der Aufrichtigkeit seines Verhaltens internationales Ansehen genoss und den Zionismus als „Meilenstein in der Entwicklung des jüdischen Volkes“ trotz aller Vorbehalte auch dann propagierte, als er bei rabbinischen Kollegen in Deutschland und Österreich auf Unverständnis stiess.

Marcus Cohn war von den zionistischen Kongressen sehr beeindruckt, und es war deshalb gewiss kein Zufall, dass er als überzeugter Zionist - der seine fünf Kinder schon hebräisch lehrte, als sie vier Jahre alt waren – ausschlag­gebend dazu beitrug, dass sich die schweizerische Judenheit, in zionistischen Fragen noch weitgehend indifferent und oft ablehnend, unter der Führung von Jules Dreyfus-Brodski an der Gründung der erweiterten Jewish Agency beteiligte. Angesichts der zaudernden Zurückhaltung anderer jüdischer Landesverbände hat, nach dem Zeugnis von Chajim Weizman, dies weitgehend dazu beigetragen, die Gründungsschwierigkeiten der Jewish Agency zu überbrücken. "Durch seine hervorragende und integre Persönlichkeit, die nicht an vielfältige gesellschaftliche Begrenzungen gebunden war, konnte Marcus Cohn seinen Bemühungen zu einem aussergewöhnlichen Erfolg verhelfen", erklärte Chajim Weizman wörtlich.

Ueber 25 Jahren vor der Errichtung des Staates Israel (1922 – 1948) fungierte Marcus Cohn als eine Art Sachwalter jüdischer Interessen, und sein Haus an der Austrasse 16 erfüllte die Aufgabe einer Art jüdischer Gesandtschaft in engstem Rahmen, an die man mit jeder An­frage in jüdischen Belangen herantreten konnte. Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Besuch des ersten Oberrabbiners des Yischuw in Palästina, Rav A.I. Kook, im Dezember des Jahres 1924. Rav Kook befand sich damals auf seiner einzigen Auslandreise nach seiner Ernennung zum Oberrabbiner, und es war ihm ein Anliegen, einige Tage in der Austrasse 16 zu verbringen. Hier, im Hause von Dr. Marcus Cohn - seit langem einer seiner treuesten Freunde und Anhänger - empfing Rav Kook Vertreter der verschiedenen religiösen Gruppierungen des europäischen Judentums, und versuchte von Basel aus auf die zahllosen Divergenzen der Orthodoxie in Europa ausgleichend zu wirken.

Selbst in ruhigen Zeiten bildete das Haus Austrasse 16 für zahllose Juden die Station ihrer Wanderung - selbst dann, wenn sie vorher weder Marcus Cohn noch seiner Fa­milie bekannt waren. Sendboten aus den berühmten Jeschiwoth im Osten waren in der Austrasse 16 wie zuhause und pflegten dort bis spät in die Nacht hinein ihre Sorgen zu diskutieren und die in Westeuropa so seltene echte jüdische Atmosphäre zu verspüren, wo es keinen Unterschied gab zwischen Ost- und Westjuden. Dabei war Marcus Cohn bei all seinen vermittelnden Bemühungen im Kriege und in den letzten Jahren zuvor, ebenso wie vom Beginn seiner beruflichen Laufbahn an, politisch stets unabhängig und bei all seinen umfassenden Bestrebungen nirgends irgendeinem auswärtigen Gremium unterstellt. Vielleicht war er gerade dadurch und dank seiner aussergewöhnlichen Opferbereitschaft und Hingabe effektiv leistungsfähiger als manche zweckgebundene Organisation.

In den Zwanzigerjahren pflegten sich hier speziell die ostjüdischen Studenten der Basler Universität zu treffen, weil Marcus Cohn mit besonderem Verständnis auf ihre speziellen Probleme einzugehen wusste. Überhaupt liess er sich seit seinen frühesten Berufsjahren Hilfe gegenüber Studenten besonders angelegen sein. Er half nicht nur finanziell, sondern bei formeller Einordnung, bei der Lösung ihrer privaten Probleme, mit sachlicher Förderung beim Fortgang ihrer Studien, und in seinem Arbeitszimmer wurde so manche Dissertation entworfen oder überarbeitet. Darüber hinaus hat er später oft unter absoluter Hintenanstellung seiner eigenen Interessen den jungen jüdischen Kollegen Ämter und Positionen verschafft. Es war sicher kein Zufall, dass 1933, als die deutschen Universitäten für Juden gesperrt wurden, sehr viele Basel als Studienort wählten. Bei zahlreichen unter ihnen war dies auf Marcus Cohn und sein Haus zurückzuführen, da sie oder ihre Eltern wussten, dass sie hier ein Heim finden würden. Trotz seiner übergrossen anderweitigen Beanspruchung sorgte er wie ein Vater für sie, förderte ihre Studien, verwandte sich bei den Professoren für sie und erleichterte ihnen die Schwierigkeiten des täglichen Lebens. Vor allem aber stand die Austrasse 16 weit offen für sie, und wenn sie im Büro ihm allein gegenüber sassen und verzweifelt ihre Sorgen um ihre Angehörigen in den besetzten Ländern vor ihm ausbreiteten, wenn er immer und für jeden Zeit hatte, jedem sein tiefes Verstehen, seine Güte und seinen klugen Rat schenkte, so empfanden sie ihn in dieser stürmischen Zeit als einen ruhigen Pol, von dem Halt und Hoffnung für sie ausging, und wenn er sie dann später hinaufführte in die Wohnung, so fanden sie hier einen grossen Kreis von Schicksalsgenossen und es ergab sich von selbst, dass unter so viel geistig interessierten, gleichgesinnten jungen Menschen eine Atmosphäre der Harmonie und Hoffnung erwuchs.

Sicher werden vielen aus jenen so ernsten Zeiten die fröhlichen Abende in der Austrasse 16 lebendig in Erinnerung bleiben: drei Zimmer im ersten Stock voller Menschen, eine warme Atmosphäre voller Leben, Geist und Witz. An Channukah bleiben die Vorübergehenden auf der Austrasse stehen und schauen hinauf zu den Fenstern, in denen eine Menora neben der anderen ihr Kerzenlicht auf die Strasse wirft, dahinter drängen sich fröhliche junge Menschen, und am langen Tisch spielt man, eingehüllt von der Wärme des Kriegs-Sägemehlofens, "Gottes Segen bei Cohn". Wie jung war Marcus Cohn in diesem Kreis, wie stolz war er auf seine junge Frau, der Neuankömmlinge nicht die grossen Kinder glauben wollten, worauf er schmunzelnd zu sagen pflegte: "Ja, die Kinder sind von der ersten Frau."

Jeden Abend sass Marcus Cohn bis lange nach Mitternacht in seinem Büro und arbeitete, - zu gewissen Zeiten sogar ganze Nächte hindurch. Zu komplizierten persönlichen Beratungen bestellte er oft seine Klienten auf spät abends, um zeitlich nicht begrenzt zu sein. Während der Hitlerzeit stand die Austrasse 16 nicht nur den Studenten, sondern allen Flüchtlingen weit offen. Speziell die Intellektuellen fühlten sich angezogen. Tagtäglich konnte man hier Heimatlose aus jeder Himmelsrichtung und von jeder Geistesrichtung antreffen. Fremd, entwurzelt und sorgenvoll waren sie nach Basel gekommen, und hier im Hause von Marcus Cohn fanden sie Wärme, geistige Anregung, Heiterkeit, tätigen Optimismus und das absolute Gefühl des Zuhauseseins.

Zu dieser Zeit standen die Hausglocke und das Telefon in der Austrasse 16 nicht still. Es gibt Menschen, die ihr Leben und das ihrer Familie dem Umstand verdanken, dass sie mitten in der Nacht irgendwo von der Schweizer Grenze Marcus Cohn telefonierten (den sie nur dem Namen nach kannten), und dass dieser sofort nachts alle Schritte unternahm, um seine Beziehungen dazu auszunützen, dass man ihnen Asylrecht in der Schweiz gewährte. Bezeichnend für die selbstlose Hingabe von Marcus Cohn war ein Telefonanruf, der ihn an einem späten Freitagnachmittag im Sommer des Jahres 1938 erreichte, dem Vorabend der Bar-Mitzwa seines ältesten Sohnes David, mit dem er in besonders enger Weise verbunden war. Marcus Cohn war bereits festlich gekleidet und glücklich, zu diesem Anlass in die Synagoge zu gehen, als ein dringlicher Anruf von einem Wiener Flüchtling kam, den man über die deutsche Grenze stellen wollte. Sofort begab sich Marcus Cohn zu ihm, und er kam erst lange nach Mitternacht zurück, nachdem es ihm gelungen war, den Ausweisbefehl annullieren zu lassen. Nie hat Marcus Cohn seine rettende Hand versagt, nie seine eigene Bequemlichkeit oder den Verbrauch seiner eigenen Kräfte irgendwie berücksichtigt.

Um diese Zeit begannen die Antisemiten in verschiedenen Schweizer Städten, sich in offenen Ausschreitungen zu versuchen. In Folge der vorbildlichen Haltung der Basler Bevölkerung nahmen die Versuche in Basel nicht so krasse Formen an wie in anderen Schweizer Städten. Nur im Schutze der Dunkelheit wurden einige Male die Basler Synagoge und - das Haus Austrasse 16 - mit Hakenkreuzen oder ketzerischen antisemitischen Inschriften beschmiert.

Besonders viel Zeit widmete Marcus Cohn Besprechungen mit einflussreichen christlichen Geistlichen, um die Einstellung des Judentums zu speziellen Fragen klarzustellen. In seinem Haus konnten Menschen aller politischen und religiösen Anschauungen freimütig ihre Meinungen äussern - Marcus Cohn war bereit, sich mit jedem auseinander zu setzen. Die einzige Anforderung, die er an jeden stellte, war, dass er offen und ehrlich zu seiner Sache stand. Wie kaum ein anderer hatte der Hausherr das Recht, dies von seinen untereinander so extrem divergierenden Gästen zu fordern, kam Marcus Cohn selbst doch dieser Forderung in beispielhafter Art und Weise nach.

Schon zu Beginn des Krieges gehörte Marcus Cohn zu den wenigen repräsentativen Schweizer Persönlichkeiten, die sich in einer Resolution dafür einsetzten, in einem eigenen Forum die Wünsche und Anliegen der Flüchtlinge selbst zu Worte kommen zu lassen und die Verwaltung der zahlreichen Flüchtlingslager und Kinderheime in kultureller und organisatorischer Hinsicht einer aus dem Kreis der Flüchtlinge von ihnen selbst zu wählenden Körperschaft zu übertragen. Wegen der anfänglichen Gegnerschaft ist die Flüchtlingsvertretung leider erst viele Jahre später entstanden, und es sind ihr mit Kriegsende grosse und dankbare Aufgaben bei der Umschulung und der Einordnung von Flüchtlingen zugefallen.

Während all dieser Jahre hat sich an der äusseren Fassade des Hauses Austrasse 16 und an der inneren Einrichtung kaum etwas geändert. Die Herzlichkeit der Aufnahme blieb stets die selbe, doch das Auftreten von Marcus Cohn wurde unter dem Einfluss der Geschehnisse in den letzten Kriegsjahren bedrückter. Die vielfache auf ihm lastende Verantwortung begann sich auch gesundheitlich abzuzeichnen, und oft musste er seine Besucher in seinem Schlafzimmer im zweiten Stock empfangen.

Ein einziges Mal, im Prozess um die berüchtigten Protokolle der Weisen von Zion, widmete sich Dr. Cohn intensiv der Abwehr nach aussen. Im Allgemeinen lag ihm nicht so sehr die Apologetik wie die Stärkung nach Innen. Marcus Cohn suchte weder die persönliche Publizität des öffentlichen Hervortretens, noch die Wahrung ehrgeiziger Interessen. „Alle Juden sind sich gegenseitig verantwortlich“ – dieser talmudische Lehrsatz war es, der sein Leben formte, auch in seiner Tätigkeit als Präsident des Schweizerischen Zionistischen Verbandes und angesehenes Mitglied des  Kongressgerichts.  Die Notwendigkeit jüdischer Sachverwaltung in einer sich wandelnden Welt liess Marcus Cohn zum Vorkämpfer des World Jewish Congress werden.

 

Marcus Cohn und das Lehrerseminar

Als langjähriges Mitglied der Geschäftsleitung des Schweizerisch Israelitischen Gemeindebundes hatte er die Möglichkeit, viele seiner Pläne zu verwirklichen, nachdem er sechs Jahre lang das jüdische Jahrbuch der Schweiz herausgegeben hatte. Besonders die Schaffung eines jüdischen Lehrerseminars lag ihm am Herzen.

Mit der Zerstörung aller jüdischen Lehrerseminare hat in Europa seit dem Jahre 1940 die Möglichkeit der Ausbildung eines jüdischen Lehrer- und Rabbiner-Nachwuchses aufgehört. Es war somit seither eine Lücke entstanden, die im Zeitpunkt des Wiederaufbaus jüdischer Gemeinden schmerzlich fühlbar wurde. Den jungen jüdischen Menschen, die sich zum Lehrer berufen fühlten, war es unmöglich geworden, eine systematische, methodische berufliche Ausbildung zu geniessen, da die jüdischen Lehrerseminare in Deutschland, Frankreich, Österreich, Holland sowie in den Ländern des Ostens vernichtet worden waren. Von unseren Schweizer Verhältnissen aus gesehen war die Situation besonders bedenklich, da die überwiegende Mehrheit der in der Schweiz amtierenden Rabbiner, Religionslehrer und Kultusbeamten, in Ermangelung einer eigenen Institution, ihre Ausbildung im Ausland genossen hatten, vor allem an dem früheren Rabbinerseminar in Berlin sowie an den Lehrerseminarien in Wien, Würzburg und Köln und an der Ecole Rabbinique in Paris.

Den jungen jüdischen Menschen in der Schweiz, die die Absicht hatten, ein jüdisches Amt in der einen oder anderen Form zu Beruf zu wählen, war somit seit Beginn des Krieges dieser Weg verschlossen. Dies musste die massgebenden Instanzen mit Besorgnis erfüllen, denn es liegt im Interesse der Heranbildung eines qualifizierten Religionslehrer- und Kultusbeamten-Nachwuchses, dass für Söhne und Töchter unserer Gemeinden, die sich dafür eignen, diese Laufbahn in gründlicher und sachgemässer Ausbildung ermöglicht wird. Aber abgesehen von der Sorge für die relativ wenigen Schweizer Interessenten schien das Postulat berechtigt, jüdischen Flüchtlingen die Möglichkeit zur Ausbildung für den jüdischen Lehrerberuf zu bieten.

Die Leitung des Gemeindebundes hat hierauf, nachdem der jüdische Lehrer- und Kantorenverband auch weiterhin Bedenken zeigte, am 8. Juli 1943 eine besondere Studien-Kommission zur Prüfung aller einschlägigen Fragen ernannt, bestehend aus Dr. Marcus Cohn, Leiter des Ressorts für Kulturelles und Religiöses in der Geschäftsleitung des Gemeindebundes, als Präsident, sowie den Herren Rabbiner Dr. A. Weil und Erich Hausmann. Diese Kommission hat sodann nach genauen Prüfungen in einem ausführlichen Exposé dem Gemeindebund die Notwendigkeit und die Möglichkeit der Gründung eines solchen jüdischen Lehrerseminars dargelegt. Im Juli 1944 hat der Gemeindebund hierauf beschlossen, diese Studien-Kommission mit der Verwirklichung des Planes zu betrauen und diese Kommission gleichzeitig durch Zuwahl der Herren Oberlehrer Werczberger, Dr. Pinchas S. Rothschild, Salomon Halpérin, Jean Nordmann (Fribourg) und Dr. Charles Liatowitsch (Basel) erweitert.

Der Plan eines Lehrerseminars liess sich in der Schweiz unter den gegebenen Umständen nur verwirklichen, indem das Budget in möglichst bescheidenem Rahmen gehalten wurde. So musste man bei der Wahl des Lehrkörpers die in der Schweiz vorhandenen Kräfte heranziehen und eine Lösung finden, bei der Dozenten für ihr besonderes Fachgebiet für das Lehrerseminar gewonnen wurden. Von Anfang an war vorgesehen, dass nicht nur Religionslehrer, sondern auch Religions­lehrerinnen im Basler jüdischen Seminar eine methodische und pädagogische Ausbildung erhalten. Es sollte eine Elite von Lehrkräften herangebildet werden, die den Gemeinden, in die sie künftighin berufen werden, auch als Schochtim vorstehen, um insbesondere auch der ihr anvertrauten Jugend den Weg weisen zu können zu jüdischer Lehre und jüdischem Leben.

Während der zwei Jahre von 1945 bis 1947 konnte das vorgesehene Programm durchgeführt werden, das vor allem die Fächer Jüdische Geschichte, T'nach, Hebräische Sprache, Jediat Haarez, Talmud, Jüdische Religionsphilosophie, Geschichte der Halacha, Mischnajoth, Dinim, Schechita, Sofrut, hebräische Literaturgeschichte, Homiletik, Methodik des Geschichtsunterrichts, Siddur und Mach­sor, Musiktheorie und Kantorat umfasste und nach den Worten des Präsidenten des Lehrer- und Kantorenverbandes der Schweiz, Alt-Prediger Josef Messinger, Grossleistungen vollbrachte, die weithin Anerkennung verdienen. Unter schwierigsten Umständen war es möglich geworden, den Plan des Jüdischen Lehrerseminars durchzuführen, das massgeblich von Marcus Cohn geprägt worden war, wie auch das "Jüdische Lexikon", ein jüdisches Jahrhundertwerk.

 

Marcus Cohn und das "Jüdische Lexikon"

Als Georg Herlitz und Bruno Kirschner zu Anfang der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts die Redaktion des "Jüdischen Lexikons" übernahmen, das in deutscher Sprache zum ersten Mal einen Gesamtüberblick über die Religions- und Kulturgeschichte des Judentums geben sollte, taten sie Ausschau nach einem Juristen, dem sie die Bearbeitung des Rechts und der jüdischen Rechtsgeschichte anvertrauen könnten. Nach langer Suche und vielen Absagen wandten sie sich an Marcus Cohn. Hier war ein praktisch tätiger und vielbeschäftigter Anwalt, der nicht nur im schweizerischen, sondern auch im deutschen und französischen Recht zu Hause war, der aber auch seit frühester Kindheit den Geist und die Substanz der Wissenschaft des Judentums in sich aufgenommen hatte. In dem Rabbinerhaus, in dem er aufgewachsen war, kam die Verbindung von Tora und Derech-Eretz, von jüdischer und allgemeiner, religiöser und weltlicher Bildung zur schönsten Entfaltung. Zu der Zeit, als er das juristische Studium aufnahm und sich für die juristische Karriere entschloss, war er in allen jüdischen Disziplinen bereits ausgebildet; aber mit seiner Inanspruchnahme mit juristischen Studien verlegte sich auch das Schwergewicht seines jüdisch-wissenschaftlichen Interesses auf das jüdische Recht, das fortab für ihn eine unerschöpfliche Quelle juristischer Anregung und akademischer Forschung wurde.

Es ist Marcus Cohn gelungen, in dem knappen, eng begrenzten Rahmen lexikographischer Kurzartikel Darstellungen der Rechtsinstitutionen zu geben, die einerseits eine ausreichende Kenntnis des Gegenstands vermitteln, andererseits aber nicht mit Einzelheiten fachtechnischer Natur überladen sind, für welche der interessierte Leser eher direkt auf die Quellen verwiesen wird. Trotzdem enthalten die Artikel die gesamte zum juristischen Verständnis erforderliche Information; und für den Rechtsvergleicher und Rechtshistoriker, dem das hebräische Quellenmaterial nicht oder nur schwerlich zugänglich ist, bietet der Verfasser autoritative - wenn auch sekundäre - Rechtsnachweise. Aus dieser Zeit sind manche humorvolle Momente in Erinnerung, wie z.B. der Text jenes Telegramms, das der Redaktor des Lexikons an Marcus Cohn sandte: „Wo bleibt Veruntreuung und Verrat?“.

Die jüdisch-rechtlichen Arbeiten Marcus Cohns, die im "Jüdischen Lexikon" einen weiten Leserkreis gefunden haben, haben ihn in die erste Reihe der Sachver­ständigen für jüdisches Recht gestellt. Es war daher nur natürlich, dass nach der Staatsgründung das Justizministerium des Staates Israel ihn dazu berief, die mit Gesetzgebungsentwürfen betrauten Organe jüdischrechtlich zu beraten. In der Begeisterung über die neu errungene Unabhängigkeit vom englischen Regime bestand damals eine leicht erklärliche, volkstümliche Tendenz, das jüdische Recht – z. T. anstelle des englischen – in dem neuen Rechtskorpus zu integrieren. Auch in Israel machten sich allerdings die wenigsten Juristen eine klare oder richtige Vorstellung vom Wesen und Inhalt des jüdischen Rechts: es wurde deshalb beschlossen, einen Experten als Sachberater für jüdisches Recht zu ernennen, dessen Aufgabe es sein sollte, für jedes Thema, das auf die Tagesordnung der Gesetzgebungsorgane gesetzt werden sollte, zuerst einmal die aus den Quellen des jüdischen Rechts herzuleitenden Lösungen ausfindig und bekannt zu machen. Eine vorzüglichere Wahl als die Marcus Cohns konnte sicher nicht getroffen werden: "Wir brauchten nicht nur einen Rechtsgelehrten, der in die Geheimnisse des jüdischen Rechts eingeweiht war, sondern auch einen Rechtspraktiker, der aus langjähriger europäischer Erfahrung ein treffsicheres Gefühl dafür haben würde, was aus dem jüdischen Recht für eine moderne Gesetzgebung verwendbar und was unver­wendbar ist", betonte  der israelische Oberrichter Chaim Cohn. In den wenigen Jahren seiner Tätigkeit in Jerusalem hat Marcus Cohn entscheidend dazu beigetragen, die Grundlinien einer Gesetzgebungspolitik festzusetzen, die zum Teil bis auf den heutigen Tag in Kraft geblieben sind, dass nämlich bei der Bearbeitung eines jeden Gesetzgebungsproblems neben allen anderen Quellen und Mustern aus fremden Rechtssystemen auch jüdisches Recht geprüft und auf seine Verwendbarkeit oder Anpassungsfähigkeit untersucht wird.

In Erinnerung an die segensreiche Tätigkeit von Dr. Marcus Cohn wurden seine Beiträge zum jüdischen Recht in einem besonderen Buch, „Lexikon des jüdischen Rechts“ (Karger Verlag), veröffentlicht und so der Nachwelt erhalten. Wie das jüdische Recht selbst, so ist seine Darstellung aus der Feder dieses grossen Gelehrten zeitlos und immer von neuem aktuell. Und im Gegensatz zu der in den letzten Jahrzehnten enorm angewachsenen jüdischrechtlichen Literatur in hebräischer und englischer Sprache hat die - sonst äusserst aktive und fruchtbare - deutschsprachige Rechtsvergleichung kein neues jüdischrechtliches Material aufzuweisen. Auch hier wird das vorliegende Werk eine bedeutsame Funktion erfüllen.

Wie wichtig und wesentlich die Arbeit zum Jüdischen Recht ist, zeigt die Tatsache auf, dass die J.W. Goethe-Universität in Frankfurt am Main das gesamte Material nun in Form einer CD zugänglich gemacht hat. Die Universität hat "Die Geschichte des jüdischen Rechts" als Studienfach für die Studenten klar nach Themen geordnet, u.a. in die Kapitel "Anfänge des jüdischen Rechts" oder "Talmud und Bibel" aufgeteilt und mit Ergänzungen bis hin zu juristischen „Links“ und Informationen über "Israels Rechtssystem" versehen. Dass das Werk von Marcus Cohn auf diesem modernsten Datenträger veröffentlicht wurde, zeigt auf, wie zeitlos und einzigartig es ist.

Mit seiner Übersiedlung nach Jerusalem wollte sich Marcus Cohn nicht etwa zur Ruhe setzen, sondern sich mit bewundernswertem jugendlichem Elan daran machen, seine lebenslangen Ideale in die Tat umzusetzen. Bald wurde sein Haus an der Rashba-Strasse 15 in Jerusalem in ähnlicher Weise zum Mittelpunkt seiner Tätigkeit, wie des jahrzehntelang die Austrasse 16 in Basel gewesen war.

Leben und Werk von Marcus Cohn sind unvergesslich und unvergänglich. In Jerusalem trägt eine der wichtigsten Bibliotheken ihrer Art für immer seinen Namen. "Dr. Marcus Cohn Memorial Library, Jerusalem" - so lautet die Inschrift über dem Eingang zur bedeutenden Bibliothek der Jeschiwa Merkas HaRaw in Jerusalem, die heute über 30,000 Bände besitzt. Marcus Cohn war ein persönlicher Freund von Rav Avraham Jizchak Kook, dem ersten Oberrabbiner des Jischuv. Die Bibliothek wird daher zum Denkmal im Andenken an diese beiden Weisen Israels; ein Monument, das dazu beiträgt, jüdisches Gedankengut zu erhalten und zu verbreiten.

Ein grosses Werk hat Dr. Marcus Cohn hinterlassen. Er hat als Mensch, Wissenschafter und zentrale jüdische Persönlichkeit Massstäbe gesetzt, Massstäbe, die sein Freund und Weggefährte, der Basler Anwalt Dr. Ignaz Herzfeld s.A., treffend zusammenfasste: "Marcus Cohn war von harmonischem Wesen, das er auf seine Umgebung ausstrahlte. Das tiefe menschliche Verständnis war auch die Wurzel seiner Ausgeglichenheit, seines Sinns für das Ausgewogene, für die Proportionen, für das Gleichgewicht der Kräfte und darum für die Gerechtigkeit. Ein schönes Wort sagt, die Gerechtigkeit sei die Nächstenliebe der Weisen. Das trifft auf Marcus Cohn zu. Er war ein Anwalt der gerechten Sache."

 Arthur Cohn