Rechtsgeschichte


 

Chaim Cohn, Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht

 

Kap. 13   Die Perversion des Rechts

 

Die Weissagung Jesu hatte sich erfüllt. Der Tempel war zerstört, kein Stein war auf dem anderen geblieben (Mk 13, 2; Mt 24, 2; Lk 21, 6). Gewiss war dies die erwartete göttliche Vergeltung für die Kreuzigung Jesu, und gewiss verhängte Gott keine unverdiente Strafe. Was für einen besseren und stärkeren Beweis konnte es für die jüdische Schuld geben? Und man bemerke ‑ gestraft wird das ganze jüdische Volk, nicht bloß die Priester, Ältesten oder Schriftgelehrten. Gottes Zorn ist auf sie alle und auf ihre Kinder herabgekommen, in Erfüllung genau des Fluches, den sie ungefragt auf sich selbst herab gerufen hatten. Nun lag ihre Stadt in Trümmern, war ihr Land vernichtet, ihre nationale Selbständigkeit aufgelöst, sie selbst waren vereinzelt und zerstreut, nah und fern, ein leichtes, selbstverständliches Ziel endloser Qual und Verfolgung. Gottes Wille war es offensichtlich auch, dass ihre Strafe nicht an Zeit oder Raum gebunden war. So gewaltig war ihr Verbrechen, dass es, wie ewig, unbestimmt und unermesslich die Strafen auch waren, die sie zu erdulden hatten, dafür keine Sühne geben konnte. Die qualvolle Vergeltung muss allezeit erlitten werden.

Die Juden teilten diese Überzeugung nicht. Zwar waren die Trümmer Jerusalems und seines Tempels sowie die Zerstreuung des jüdischen Volkes unter die Nichtjuden Strafe Gottes. Wenn Er Böses sandte, musste es verdient sein. Im Talmud finden wir eine lange Liste von Sünden und Übertretungen, deren sich das gegenwärtige Geschlecht - so jedenfalls glaubte man - schuldig gemacht hatte und aufgrund deren es von der göttlichen Vergeltung heimgesucht wurde. Jahrhunderte währten die Diskussionen darüber, mit welcher konkreten Missetat man diese und mit welcher jene Heimsuchung verdient hatte. Natürlich wurden zu den vielen, mannigfaltigen Bosheiten dieser Generation weder die Kreuzigung Jesu noch der Fluch gezählt, den die Juden angeblich auf sich herab gerufen hatten. Mit Blick auf alles, was mit dem Tod Jesu verbunden war, war das jüdische Gewissen - damals wie zu jeder Zeit - rein und ruhig. In welchem Masse auch immer die Juden durch die Jahrhunderte auf bittere Weise an ihre so genannte Schuld als Gottesmörder erinnert wurden, ihre eigene Selbstbeurteilung war unbezwingbar. Ganz abgesehen davon, dass sie nicht an die Göttlichkeit eines menschlichen Geschöpfes, also auch nicht an jene Jesu, glaubten, konnten sie ihren Gegnern im besten Glauben antworten, man müsse für den Fall, dass tatsächlich ein jüdisches Gericht jener Zeit Jesus eines todeswürdigen Verbrechens für schuldig befunden habe, annehmen, er sei zu Recht verurteilt worden, und das Gericht habe rechtsgemäß und nach bestem Wissen und Vermögen gehandelt und gerichtet. Vielleicht war es nicht einmal ihre Aufgabe, zu bestreiten, dass ein jüdisches Gericht Jesus den Prozess gemacht und ihn verurteilt hatte, weil sie, was diese grundlegende Tatsache betraf, glauben mochten, sie müssten auf der Grundlage der Annahme vorgehen, dass sie nicht über alle Informationen verfügten, die ihre Gegner hatten. Trotzdem bestritten sie es wirklich und gingen dabei so weit, zu behaupten, dass jüdische Gerichte bereits vierzig Jahre vor der Tempelzerstörung keine Kapitalgerichtsbarkeit mehr ausgeübt hätten, so dass sie Jesus im Jahre 30 gar nicht aufgrund des Vorwurfs eines Kapitalverbrechens den Prozess hätten machen können. Unglücklicherweise versäumten es die Juden, ihren christlichen Herausforderern auf der Grundlage ihrer christlichen Voraussetzung entgegenzutreten und auf der Basis der Ewangellenberichte selbst für die jüdische Unschuld einzutreten. Doch damals galten die heiligen Schriften der Christen - und zwar seit frühester talmudischer Zeit - als strengstens tabu, und ihre Lektüre war verboten. Nicht nur, dass kein jüdischer Gelehrter sie, sei es aus intellektueller Neugier oder im Bestreben, die notwendige Kenntnis über die Waffen des Gegners zu gewinnen, gelesen hätte, im Talmud gibt es auch Erklärungen, nach denen jene Bücher ver­brannt werden sollten. Sie müssen damals, und in einigen Kreisen gilt dies noch heute, als überaus gefährlicher Stoff gegolten haben, viel zu gefährlich, als dass man ihn in einem jüdischen Haus herumliegen haben durfte, eine Auffassung, die ‑ ich stehe nicht an, es zu sagen ‑ eher aus purer Ignoranz denn aus Sachkenntnis heraus entstanden ist.

Das reine Gewissen der Juden sollte ihnen nichts nützen, vielmehr wurde es in Wirklichkeit völlig bedeutungslos. Seit frühester Zeit wurde die jüdische Schuld an der Kreuzigung Jesu zu einem willkommenen und selbstverständlichen Ausgangspunkt, um die Juden mit allen denkbaren wirklichen und imaginären Morden zu belasten. So werden schon in den apokryphen Schriften des ersten Jahrhunderts nach der Zeitrechnung die Juden, sei es im allgemeinen oder aber in Gestalt ihrer Hohenpriester und Ältesten, wegen der mutwilligen Tötung von Hananlas und Kleophas gebrandmarkt, die als zwei Freunde Jesu dargestellt werden. Sie sollen auch Joseph von Arimathäa ins Gefängnis geworfen und ihn dort haben sterben oder verhungern bzw., nach einer anderern Version, an einer Vergiftung zugrunde gehen lassen. Auch Longinus, jener Hauptmann, der Jesus am Kreuz sterben sah und sprach: »Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen « (Mk 15, 39; Mt 27, 54) oder, was wahrscheinlicher zu sein scheint: »Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen!« (Lk 23, 47), Soll in Rom von Pilatus ‑ auf Bestechung durch die Juden hin ‑ zu Tode gebracht worden sein. Sein abgetrenntes Haupt habe man als Beweis für diesen Mord nach Jerusalem gebracht. Maria, die Mutter Jesu, soll von den Juden zu Tode verbrannt worden sein, Martha und Lazarus, so heißt es, wurden von ihnen in Jaffa im Meer ertränkt. Simon von Kyrene soll natürlich der erste gewesen sein, der von den Juden gekreuzigt wurde, weil er, indem er sein Kreuz trug, getan hatte, was Jesus selbst hätte tun müssen. Nachdem sie sich als fähig und eifrig darum bemüht gezeigt hatten, sogar den Sohn Gottes zu ermorden, würden die Juden, so dachte man, gewiss nicht davor zurückschrecken, auch seine nächsten Angehörigen und seine Anhänger zu ermorden; und so mochte, da sie ohnehin unverbesserliche Mörder waren, jeder unnatürliche Tod, für den sich kein anderer Täter finden ließ, nahezu automatisch und in jedem Fall willkommener maßen ihnen angelastet werden. Auf diese Weise wurden die Juden unwillkürlich schon bald zum selbstverständlichen Sündenbock, der jeden ungestraft gebliebenen Tod eines Christen zu sühnen hatte. Die Vorstellung, Juden bedürften für ihr Ritual dringend christlichen Blutes, war nicht nur die erste, sondern auch die dauerhafteste Konstruktion, die man als Motiv für die unstillbare Blutrünstigkeit der Juden anführte. Im Laufe einer logischen, unerbittlichen Entwicklung wurden die Juden letztlich für jede Katastrophe und jedes Unheil, die der christlichen Welt widerfuhren, verantwortlich gemacht; bei ihnen handelte es sich nicht mehr um göttliche Strafen, sondern um abscheuliche jüdische Verbrechen. Wann immer Seuchen ausbrachen oder die Pest ‑ und es gab solche Ausbrüche in Fülle ‑, waren es immer die Juden, die sie verursacht hatten, indem sie Wasser und Futter vergifteten (wobei man leicht vergaß, dass Juden aus denselben Brunnen tranken wie die Christen), indem sie Aussätzige bestachen und anwarben, damit sie Krankheiten verbreiteten, oder indem sie genau das taten, dessen Jesus beschuldigt worden sein soll, indem sie nämlich ein Bündnis mit dem Teufel und mit bösartigen Dämonen eingingen. Die Märchen über die jüdische Verbindung von Mord und Magie, Gift und Zauberei, Blut und Ritual, die auf eine vollkommene Vernichtung des Christentums zielten, wurden „in mannigfaltiger Gestalt häufig genug wiederholt, um daraus den Hinweis zu entnehmen, dass sie ganz allgemein Glauben fanden“.

Es ist nicht nur so, dass die jüdische Schuld an der Kreuzigung Jesu praktisch zu einem dogmatischen Glaubensartikel geworden ist. Die typische Kennzeichnung der Juden als Gottesmörder und somit zugleich als grenzenlos Mordlustige hat sich so tief in das Bewusstsein nachfolgender Generationen von Christen eingegraben, dass die modernen Auswüchse des radikalen Antisemitismus überall fruchtbaren Boden vorfanden. Da der Judenhass ‑ zumindest ursprünglich ‑ durch eine Glaubenssache motiviert wurde, nämlich durch die Wahrheit des Evangeliums über die jüdische Schuld, an welche der Glaubende bedingungslos zu glauben hatte, konnte man ihm nicht argumentativ begegnen. Jeder Versuch, die Wahrheit des Evangeliums zu bestreiten, lieferte nur einen weiteren Grund für Verachtung und Abscheu.

Es ist nicht unsere Absicht, aus theologischer Perspektive das Phänomen der Beschimpfung und Peinigung der Juden durch Christen zu erforschen. Die nur zu offensichtliche Diskrepanz zwischen der Predigt Jesu. (vgl. Mt 5, 44) sowie den paulinischen Lehren (vgl. Röm 9‑11) und der christlichen Praxis durch die Jahrhunderte wirft Probleme auf, deren Lösung nicht unsere Aufgabe ist. Es ist jedoch nur gerecht, in diesem Zusammenhang die bemerkenswerten und eindrucksvollen ökumenischen Anstrengungen der letzten Zeit, und zwar der katholischen wie der protestantischen Theologie, zu würdigen, die sich darauf richten, einige der seit undenklichen Zeiten bestehenden Fehler zu korrigieren, die geheiligt worden waren und sogar Eingang in die Liturgie gefunden hatten. Das Zweite Vatikanische Konzil erklärte in seiner Session von 1965: »Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen.« Selbst dieses minimale und wahrhaft selbstverständliche Urteil traf auf erheblichen Widerstand, der zeigt, wie tief eingewurzelt diese Vorurteile sind. Das Dekret vermittelt unausgesprochen die Vorstellung, dass es hinsichtlich des fundamentalen Glaubens, die jüdischen Autoritäten in Jerusalem zur Zeit der Kreuzigung seien tatsächlich für die Ermordung Jesu verantwortlich, keinen Wandel geben kann oder soll, eine Implikation, die nicht nur die fatalen Irrtümer und Missdeutungen vergangener Zeitalter fortschreibt, sondern auch die emotionale Basis, die pseudoethische und die pseudotheologische Rechtfertigung des traditionellen Vorurteils und der Feindseligkeit gegen die Juden unangetastet lässt. Zweitausend Jahre mögen vergangen sein, doch die heutigen Juden stammen noch immer von den Mördern Jesu ab und beanspruchen dies auch. Schlimmer noch, so viele haben sich entschlossen, sich mit ihren Vorfahren zu identifizieren, anstatt sie und ihre Taten zurückzuweisen und zu verleugnen; sie allein sind schuld, wenn der böse Wille fortleben darf.

Womit wir uns ‑ als Juristen ‑ befassen, ist in erster Linie das zu keiner Zeit und nirgendwo lebendiger und schrecklicher als beim Prozess Jesu bewiesene Phänomen, dass die Wirkung von Gerichtsverfahren hinsichtlich der öffentlichen Denkweise sowie der öffentlichen Reaktion nicht so sehr von ihrem Wesen oder davon abhängt, was tatsächlich in ihrem Verlauf geschehen ist, sondern von der Art und der Intention der Berichterstattung darüber. Wenn diese Sichtweise schon für die zeitgenössische Berichterstattung Gültigkeit besitzt, muss sie umso mehr mit Blick auf Berichte angewandt werden, die Jahrzehnte nach dem Ereignis verfasst wurden, ohne dass, abgesehen von mündlichen Überlieferungen, Material vorlag, auf das man zurückgreifen konnte. Wenn sie schon für die moderne Berichterstattung mit Hilfe der Massenmedien der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens gilt, muss sie um so mehr auf die Berichterstattung zur Zeit der Antike Anwendung finden, die nur auf der Grundlage primitivster Mittel und Quellen erfolgte. Am angreifbarsten und daher am verdächtigsten unter allen Berichten sind jene über die so genannten historischen Prozesse. Während über Gerichtsverfahren gewöhnlich um ihrer selbst willen berichtet wird, das heißt, um über ihre Führung und ihren Zweck sowie über das zu informieren, was sich dort wirklich ereignet hat, wird das erste und beständige Ziel routinemäßiger Berichterstattung, sobald ein Prozess „historisch“ geworden ist, automatisch durch bewusste oder unbewusste Wertungen sub specie aeternitatis ersetzt. Einzig der Rechtshistoriker mag an routinemäßiger Berichterstattung über lang vergangene Prozesse interessiert sein, doch dann ist er avis rarissima selbst unter Juristen. Was die allgemeine Öffentlichkeit betrifft, müssen Berichte über lang vergangene Prozesse um ihrer eigenen Berechtigung willen stets nach irgendeiner außerjuristischen Bedeutsamkeit suchen. Abgesehen und unabhängig von ihrem rein juristischen Gehalt müssen sie einen Beitrag zur politischen, sozialen, religiösen oder Kulturgeschichte leisten. Ein Rechtshistoriker kann etwa Platos Bericht über den Prozess gegen Sokrates durchaus dazu nutzen, unsere Kenntnis des athenischen Strafverfahrens zu bereichern, doch Plato verfasste ihn keineswegs, um diese Art der Information zu bewahren. Vielmehr schrieb er ihn, weil er das Verhalten des Sokrates während des Prozesses und danach sowie die Worte, die er zu seinen Richtern sprach, als praktische Demonstration der platonischen Philosophie betrachtete. Dieser Philosophie und ihrer nachgewiesenen Praktikabilität wollte er Unsterblichkeit verleihen, was ihm auch gelang. Das Beispiel Platos, das man vervielfachen könnte, zeigt, dass selbst dann, wenn der Bericht über einen solchen »histori­schen« Prozess anderen Zwecken dient als denen einer Prozessbe­richterstattung als solcher, damit nicht gesagt ist, dass Fakten unterdrückt, geschweige denn verfälscht oder falsch dargestellt wurden. Doch die eigenwillige Tendenz und Zielsetzung des Be­richts kann aus der Identität des Berichterstatters oder der Leser, an die er gerichtet ist, erkennbar werden, vielleicht auch aus der besonderen Hervorhebung der einen und der geringen Akzentuierung einer anderen Tatsache oder aber, vor allem, wenn der Bericht kein zeitgenössischer ist, aus dem, woran sich der Berichterstatter noch erinnert, und dem, was in Vergessenheit geraten ist. Um eine angemessene Würdigung der Gültigkeit und Vertrauens­würdigkeit des Berichts leisten zu können, muss ihn der kritische Beobachter stets einer eingehenden Oberprüfung unterziehen, zunächst hinsichtlich seiner Zielsetzung und Tendenz, sodann mit Blick auf die dem Berichterstatter zur Verfügung stehenden Mittel und Quellen. Dies ist es, worum wir uns bezüglich der Berichte der Evangelien über den Prozess Jesu bemüht haben.

Was die Identität der Berichterstatter betrifft, kann man einen weiteren Aspekt kaum überbewerten. Der Berichtende mag eine gewisse rechtliche oder religiöse Autorität ausgeübt haben oder post hoc mit ihr ausgestattet worden sein. Dies mag einerseits Skeptiker davon abbringen, Zweifel hinsichtlich der Genauigkeit des Berichts zur Sprache zu bringen, während andererseits die Autorität des Verfassers auf den Bericht selbst übertragen wird. Es entspricht selbst heute allgemeiner Erfahrung, dass ein Bericht, der in einem wenig bekannten Provinzblatt erscheint, leicht als unglaubwürdig abgelehnt wird, dass jedoch jedermann denselben Bericht als absolut zuverlässig erachtet, wenn er von einer angesehenen großstädtischen Zeitung veröffentlicht wird. Die Provinzzeitung ist hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit vom guten Willen und vom Vertrauen seiner einzelnen Leser abhängig. Der übermächtige Konkurrent dagegen kann sich auf die Reputation, ja nahezu auf das Postulat stützen, alles, was er drucke, entspreche der Wahrheit. Die gleiche Differenz besteht zwischen offiziellen Prozessberichten, von denen man weiß oder annimmt, sie seien unter richterlicher Aufsicht herausgegeben und zusammengetragen worden, und privaten Berichten, deren Glaubwürdigkeit von dem Scharfsinn und dem Ansehen des individuellen Berichterstatters abhängt. Diese Unterscheidung gilt in noch höherem Masse für Prozessberichte, die von kompetenten Juristen verfasst werden, und jenen, die in der Tagespresse von Journalisten veröffentlicht werden. Doch dies wird nicht in jedem Fall zu einer Empfehlung für den offiziellen Berichterstatter. In unserer konkreten Untersuchung haben wir es mit dem Unfug zu tun, den eine offizielle Berichterstattung gerade aufgrund der Autorität bewirken kann, mit der sie ausgestattet ist. jeder falsche oder irreführende Bericht muss, sofern er von juristischen oder theologischen Autoritäten oder durch den Erlass einer Regierung veröffentlicht wird, von jedem als wahr akzeptiert werden, für den die Aussagen dieser Autorität oder Regierung verbindlich sind. Er wird ihn entweder akzeptieren, ohne ihn zu hinterfragen, oder aber nicht nur den Bericht, sondern zugleich auch die Autorität des Berichtenden zurückweisen. Gewöhnlich wird die Autorität, die ein Mensch, sei es freiwillig, aufgrund eigener Überzeugung, sei es infolge der Tradition und Erziehung oder aber als Begleiterscheinung seiner politischen, sozialen oder religiösen Lebensbedingungen anerkannt hat, stark genug sein, um jedem denkbaren Zweifel oder Misstrauen hinsichtlich der Genauigkeit der Einzelheiten in einem solchen Bericht standzuhalten, so dass er, anstatt seinen Gefühlen der Ungewissheit diesbezüglich Raum zu geben, eher auf die Autorität vertrauen wird. je älter oder heiliger die Autorität, desto unanfechtbarer der Bericht; je länger Menschen an seine Wahrheit geglaubt haben und je größer die Zahl der Menschen, die von seiner Aufrichtigkeit überzeugt sind, desto leichter und stärker wird er sich dem Denken folgender Generationen als unumstößliche Wahrheit aufdrängen. Die Wahrheitsvermutung wird, so fremd dies dem modernen Beobachter auch erscheinen mag, noch immer in erheblichem Masse durch Altehrwürdigkeit und die Übereinstimmung mit Mitglaubenden gestärkt. So kommt es, dass mit Autorität ausgestattete Berichte, so falsch und verzerrend sie auch sein mögen, Geschichte »machen«. Während die tatsächliche geschichtliche Wahrheit, übertrieben gesprochen, vergessen wird, lebt die konstruierte, aber autoritative »Wahrheit« unzerstörbar fort.

Eine überaus gefährliche Falle für den fairen, zugleich aber die einfachste Technik für den tendenziösen Berichterstatter besteht in der Übertreibung der Rolle, die das Publikum, die Zuschauer oder die breite Öffentlichkeit bei einem Prozess spielten. Das Verfahren kann leicht fälschlich so dargestellt werden, als seien Reak­tionen oder Einwirkungen seitens der Öffentlichkeit mit Blick auf das Ergebnis ein entscheidender Faktor gewesen ‑ durchaus vergleichbar mit dem entscheidenden Anteil des Chores in einer griechischen Tragödie. In juristischen Fragen ungeübte oder uner­fahrene Leser, und dies gilt in besonderer Weise für die Vergangen­heit, hegen gewöhnlich nicht den leisesten Verdacht hinsichtlich der Genauigkeit eines Berichts, der die ‑ sei es günstige oder kata­strophale ‑ Wende hervorhebt, die ein Geschehen durch öffentliche Reaktionen erfuhr. Im Gegenteil, je stärker die Rolle der Öffentlichkeit hervorgehoben wird, desto selbstzufriedener wird der Leser, der ja selbst ein Teil der Öffentlichkeit und somit eine potentielle Figur in einem öffentlichen Prozess ist, den Bericht akzeptieren und sich daran erfreuen. Öffentliche Reaktionen haben jedoch gewöhnlich mit den rechtlichen Aspekten des Verfahrens nichts zu schaffen. Der Öffentlichkeit liegt in der Regel nichts am Gesetz als solchem, sie hat auch kein Interesse an der Bedeutung, die dieser oder jener Verfahrensweise mit Blick auf das Endergebnis zukommt. Gewöhnlich fasziniert die Menschen entweder die Persönlichkeit des Angeklagten oder eine sensationelle Enthüllung bisher unbekannter bzw. unbewiesener Tatsachen oder aber ein Detail des Prozesses, das unter den herrschenden Umständen eine besondere politische oder sonstige Bedeutung gewinnt. Doch je lebhafter sich das öffentliche Interesse und je extremer und unverblümter sich die öffentliche Anteilnahme an dem Prozess darstellt, desto schwerwiegender ist die Gefahr der Überbewertung. Der unprofessionelle Beobachter und der ungeübte Leser könnten dann zu der Auffassung neigen, jene wilde Einmischung der Öffentlichkeit, zumal wenn der Richter ihr nicht scharf Einhalt geboten hatte, habe einen Einfluss auf das Ergebnis gehabt, den sie in Wirklichkeit gar nicht ausgeübt haben konnte. Außerdem kann diese Art der Einmischung in den Verlauf eines Prozesses gut als Ausdruck der öffentlichen Meinung im allgemeinen, der vox populi, missverstanden werden, während es sich tatsächlich lediglich um spontane, unbedachte Ausbrüche zufälliger Zuschauer gehandelt haben dürfte. Doch wenn ein Bericht über einen Prozess bereits durch die unschuldige Fehldarstellung des Einflusses tatsächlicher öffentlicher Reaktionen falsch und irreführend wird, so wird ein Bericht durch die Erfindung einer solchen Reaktion im Dienste der eigenen Zwecke und ihre Deutung als praktische Usurpation gerichtlicher Vollmacht, als sei der Richter von seinem Richterstuhl verdrängt und seiner Entscheidungsgewalt beraubt worden, vollends zur reinen Fiktion oder, sofern er bindende Autorität für sich in Anspruch nimmt, zum eindeutigen Betrug.

All dies ist bei der Darstellung des Prozesses Jesu geschehen. Die ersten Berichterstatter waren, sofern wir notwendigerweise die spärlichen und zweideutigen Äußerungen, die Petrus und Paulus zugeschrieben werden, außer acht lassen, die Evangelisten. Weder sie noch ihre Leser kümmerten sich um die juristischen oder praktischen Einzelheiten des Prozesses oder um den rechtlichen Gehalt der beschriebenen Ereignisse. Ihr Ziel war theologischer und missionarischer Natur, und ihre Berichte zielten darauf ab, den römischen Statthalter von aller Verantwortung für die Kreuzigung freizusprechen, obgleich es kein Ausweichen vor der anfänglichen Prämisse gab, dass er ihre Durchführung befohlen hatte, und diese Verantwortung statt dessen fest und unumstößlich auf die Schultern der Juden zu laden. Mit diesem Zweck und dieser Tendenz schrieben sie ihre Berichte; doch sobald jene Berichte kanonisiert und in den Rang der Heiligen Schrift erhoben worden waren, schwanden ihre Absicht und ihre Tendenz aus der Erinnerung, und sie gewannen an sich eine sakrosankte Stellung. So stark war die religiöse, kirchliche Autorität, mit der sie ausgestattet wurden, dass es einer Irrlehre gleichkam, ihre Tatsachentreue und Genauigkeit in Zweifel zu ziehen. Was tatsächlich geschehen war, durfte ‑ oder sollte ‑ in Vergessenheit geraten. Was als Ereignis ungenau und auf tendenziöse Weise berichtet worden war, wurde zur Wahrheit des Evangeliums und erhob historischen Anspruch. Niemals in der Geschichte der Menschheit ist über einen Prozess so breit und kunstvoll berichtet worden, und zu keiner Zeit hat man einem falschen Bericht größere und erhabenere Vollmacht eingeräumt.

Die unmittelbare Wirkung dieses unwahren, aber geheiligten Berichts war eine zweifache. Erstens erfüllte sich ihr Ziel ‑ der römische Statthalter wurde als ein gerechter und aufrechter, wenn auch zaghafter und ineffizienter Richter beschrieben. Gezeigt wird, dass die Juden ihn als ein blosses Instrument missbrauchten, um den von ihnen geplanten Mord zu begehen. Zweitens wird das Ergebnis des Prozesses als Justizmord dargestellt: Jesus wurde nicht deshalb gekreuzigt, weil er ‑ sei es von den Juden oder vom römischen Statthalter ‑ ordnungsgemäß verurteilt worden war, sondern weil die Juden sich gegen ihn verschworen hatten, um ihn zu töten. Alle Verurteilungen und gegen ihn verhängten Strafen, über die berichtet wird, waren nichts als Ergebnisse eines Scheinverfahrens, das um des öffentlichen Anscheins willen geführt wurde, in Wahrheit jedoch dem Missbrauch eines Gerichtsprozesses gleichkam. Nach dieser Darstellung, die auf die Behauptung eines justizmords hinausläuft, ist der Prozess Jesu als die schlimmste »Perversion des Rechts« gebrandmarkt worden, die sich je er­eignet habe. Die schlimmste aller Perversionen dieser Art musste es sein, weil Jesus der beste aller Menschen war, denn »Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen!« (Lk 23, 47), und er hat am wenigsten von allen verdient, verurteilt und gekreuzigt zu werden. Inzwischen ist es in der Tat ein Gemeinplatz, seine Kreuzigung als das Beispiel eines Justizmordes zu betrachten, da es alle vorstellbaren Kennzeichen eines solchen aufweise. Während der »gewöhnliche« Justizmord auf einen Fehler des Richters zurückzuführen sein mag, den er möglicherweise in gutem Glauben begangen hat, handelte es sich bei der angeblichen Ursache der Kreuzigung Jesu nicht um einen Fehler, etwa des Sanhedrin oder des Pilatus, und mit Sicherheit nicht um einen in gutem Glauben begangenen Fehler, sondern darum, dass ein Richter aufgrund der Schikane und des Geschreis fanatischer, aufsässiger Massen unter dem Zwang stand, gegen seinen Willen und sein besseres Urteil wissentlich das Recht zu beugen. Dieser Zwang wird dadurch noch schlimmer, dass er im Gefolge einer vorherigen Verschwörung mit dem Ziel der Tötung Jesu ausgeübt wurde. Die Berichte über den Prozess bewirkten also, anders gesagt, nicht nur die Verlagerung der Verantwortlichkeit vom römischen Statthalter, wohin sie gehörte, auf die völlig unschuldigen Juden, sondern zugleich auch die Verwandlung eines ordentlichen, routinemäßigen Prozesses, der auf rechtmäßigem Wege auf eine Ausführung des Rechts hinauslief, in eine aufrührerische Erhebung der Massen, die kaum zu etwas anderem als zum Justizirrtum führen konnte.

Die Möglichkeit, dass im Prozess Jesu ein Unrecht geschehen sein könnte, besteht zweifellos. Doch nicht jede Ungerechtigkeit kommt von Rechts wegen einem Justizirrtum gleich. Ein Mensch kann hinsichtlich des Verbrechens, dessen er angeklagt ist, unschuldig sein, so dass es, vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, höchst ungerecht wäre, ihm irgendeine Strafe aufzuerlegen. Dennoch, sofern er beschlossen hätte, sich im Sinne der Anklage schuldig zu bekennen, würde die dem Gesetz entsprechende Gerechtigkeit erfordern, dass er die Strafe auf sich nähme, als hätte er das Verbrechen tatsächlich begangen. Die Haltung des Gesetzes, die jeden Menschen letztlich zum Herrn über sein eigenes Schicksal macht, indem sie ihm gestattet, seine Schuld zu bestreiten oder einzugestehen, steht gewiss in Übereinstimmung mit der menschlichen Würde und dem individuellen Selbstbestimmungsrecht. Ein Mensch kann vollkommen berechtigte Gründe haben, sich mit Blick auf eine Anklage als schuldig zu bekennen, deren er in Wirklichkeit unschuldig ist. Das ist gebräuchliche Praxis in Bagatellfällen, bei denen ansonsten vor Gericht die Zeit verschwendet würde und die aufzubringenden Kosten nicht mehr in einem vernünftigen Verhältnis zu dem Bußgeld stünden, das ein Schuldbekenntnis mit sich brächte. Es könnte auch sein, dass jemand beschließt, eine Strafe auf sich zu nehmen, die ansonsten ein anderer Mensch erdulden müsste, den er zu beschützen oder dessen Identität er zu verheimlichen wünscht. Ein anderer könnte sich entschließen, sich unabhängig davon, ob er ein Verbrechen begangen hat, einem Prozess und einer Strafe auszusetzen, um die Ehre des Märtyrertums zu erlangen. Wenn Jesus sich im Sinne der vor Pilatus gegen ihn vorgebrachten Anklage als schuldig bekannte, dann nicht unbedingt, weil er tatsächlich schuldig war oder man dies glaubte. Ein Grund könnte darin liegen, dass er seine Weissagungen (vgl. Lk 9, 22; Joh 17, 11‑13 u.a.) erfüllt sehen wollte. Was auch immer ihn dazu veranlasste, sein bewusst formuliertes Schuldbekenntnis reichte, vom rechtlichen Standpunkt aus betrachtet, als Rechtfertigung seiner Verurteilung aus. Unter rein rechtlichem Aspekt machte es, sobald er sich schuldig bekannt hatte, keinen Unterschied mehr, ob er wirklich schuldig war oder nicht. Während wir uns hinsichtlich der neuerdings wieder mit viel Verve vorgebrachten Theorie, Jesus sei in Wirklichkeit ein Aufständischer gewesen und als solcher vor Gericht gestellt und verurteilt worden, jeder Meinungskundgabe enthalten, können wir annehmen, dass er wirklich nichts getan hatte, wofür er die Todesstrafe oder irgendeine andere Strafe verdient hätte, sondern dass er einzig aufgrund des Standpunkts verurteilt wurde, den er auf eigenen Entschluss hin in seinem Prozess vor Pilatus einnahm. Auch auf der Grundlage dieser Annahme kann man nicht behaupten, die Kreuzigung hätte den Charakter eines Justizmords gehabt. Im Gegenteil, es handelte sich um die Vollstreckung eines Urteils, das im Zuge einer ordnungsgemäßen Rechtsfindung ergangen war. Der Standpunkt, den einzunehmen Jesus sich entschlossen hatte, mag selbstmörderisch gewesen und als tragisch zu beklagen sein. Er mag moralisch oder taktisch schlecht beraten gewesen sein. Doch kein Irrtum auf Seiten Jesu vermag der Urteilsfindung des Pilatus Abbruch zu tun.

Während man der »Perversion des Rechts« im Zusammenhang von Prozess und Kreuzigung Jesu den Charakter eines Prototyps und Vorläufers vieler weiterer Justizmorde zugeschrieben hat, ist bisher der Tatsache nicht genügend Aufmerksamkeit zuteil geworden, dass die Perversion von Wahrheit und Gerechtigkeit in den Berichten über den Prozess die erste und fortdauernde Ursache nicht nur zahlloser Justiz‑ oder Quasijustizmorde und Quälerelen, sondern eines Massenmordes und einer Verfolgung ungekannten Ausmaßes wurde. Ich wage zu behaupten, dass die Berichterstatter selbst, die schließlich in erster Linie um der Verbreitung ihres Glaubens willen schrieben, sich niemals hätten vorstellen können, welche unermesslichen, unsagbaren Leiden sie durch ihre fiktiven Berichte heraufbeschworen. Die Perversion der Wahrheit in einem Prozessbericht hat mit einem Justizmord gemein, dass ‑ gleich wie das pervertierte Recht auch dann, wenn es unter Umständen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden sollte, einen aufgehängten Verurteilten nicht wieder zum Leben zu erwecken vermag ‑ die pervertierte Wahrheit, selbst wenn sie später korrigiert wird, nicht imstande ist, den Vielen, die aufgrund ihrer furchtbaren Wirkmächtigkeit ermordet wurden, das Leben ein zweites Mal zu schenken. Und solange pervertierte Gerechtigkeit und pervertierte Wahrheit verderblich fortdauern dürfen, haben sie nur allzu wahrscheinlich fatale Folgen für das Leben unschuldiger Menschen.

Hätte sich die Wirkung der Evangelienberichte über den Prozess Jesu auf die religiöse Sphäre beschränkt, wie es ihre Verfasser vermutlich wollten und erwarteten, so dass sie, ähnlich wie die Berichte über Leben und Lehren Jesu, dazu gedient hätten, die Gläubigen zu erbauen und die Nichteingeweihten zu gewinnen und zu belehren, dann könnte man vielleicht behaupten, es sei ‑ möglicherweise im Gegensatz zur Religionsgeschichte ‑ nicht Aufgabe der Rechtshistoriker, ihre Genauigkeit und Zuverlässigkeit kritisch zu hinterfragen. Wären sie nicht mit unanfechtbarer Autorität ausgestattet worden, insofern sie beanspruchten, auf verbindliche, für jede Herausforderung unempfängliche Weise die Wahrheit der tatsächlichen Ereignisse niederzuschreiben, hätte der Rechtshistoriker sie ignorieren und dem Schattenreich einer legendären, nicht verifizierbaren Tradition überlassen können. Doch wenn unter Berufung auf diese Berichte Racheakte verübt und Verfolgungen durchgeführt werden, die dank der den Berichten zugeschriebenen Unantastbarkeit im Namen des religiösen Rechts bejaht und ermutigt werden, dann handelt es sich bei ihnen nicht mehr bloß um Dokumente von religiöser Bedeutung. Alle Vorurteile und Hassgefühle, die zu Verfolgungen und ungesetzlichen Diskriminierungen führen, sind, besonders heute ‑ angesichts des wachsenden Bewusstseins für die Menschenrechte und die Verwerflichkeit rassischer und religiöser Voreingenommenheit ‑ für den Juristen ebenso ein Untersuchungsgegenstand wie für Pädagogen und Soziologen. Wenn ein Vorurteil, das auch noch in unserer Zeit unhellvolle Auswirkungen mit sich bringt, in der fernen Geschichte verwurzelt ist, dann stellt es für den Rechtshistoriker gewiss einen Imperativ dar, einzuschreiten und praktizierenden Juristen, Pädagogen, Soziologen und anderen gleichermaßen die notwendigen Informationen zu liefern, damit sie dieses Vorurteil bekämpfen und beseitigen können. Der Imperativ wird dann geradezu kategorisch, wenn sich selbst in unserer Gegenwart bedeutende Juristen zu Wort melden und den Erzählungen der Evangelien den Rang authentischer rechtlicher Darstellungen verleihen. Angesichts solcher pseudowissenschaftlicher Rechtsgelehrsamkeit gilt es, Protest einzulegen und die Dinge in die richtige Perspektive zu bringen.

Der Prozess Jesu ist integraler Bestandteil der jüdischen Rechtsgeschichte, Nicht nur, dass Jesus ein Jude war, der im Kontext seines Volkes in Jerusalem lebte, lehrte, kämpfte und starb, nein, auch der Sanhedrin, die große Ratsversammlung der Juden und ihr höchster Gerichtshof, soll an den Ereignissen, die zu seinem Prozess und seiner Kreuzigung führten, beteiligt gewesen sein. Die Frage, welche Rolle der Sanhedrin ‑ wenn überhaupt ‑ gerade im Zusammenhang dieser Geschehnisse spielte, ist für den Historiker des jüdischen Rechts von höchstem Interesse. Dass der Prozess vor dem römischen Statthalter nach römischem Recht und gemäß römischen Verfahrensvorschriften geführt wurde, erhöht noch das Interesse an den damit angesprochenen Problemen. Auch die damals von der Besatzungsmacht in Judäa angewandten Rechts­ und Verfahrensgrundsätze gehören gewiss wesentlich zur jüdischen Rechtsgeschichte hinzu. Wenn Juden im Allgemeinen und jüdische Rechtshistoriker im Besonderen den Prozess Jesu sehr vernachlässigt haben, so geschah dies aufgrund einer zwar traditionellen, aber völlig unsinnigen Meldung des Neuen Testaments und des Mangels an relevanten jüdischen Quellen. Dieses unglückselige Versäumnis führte dazu, dass jüdischen Rechtshistorikern die Informationen aus diesem bemerkenswertesten aller dargestellten Prozesse jener Zeit vorenthalten blieben. Abgesehen davon erzeugte es eine apathische Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach der Authentizität, die man den Evangelienberichten über den Prozess einräumen, sowie den Schlussfolgerungen, die man aus ihnen ziehen sollte. Letzten Endes ließ man es zu, dass die Behauptung der jüdischen Verantwortung für die Kreuzigung Jesu praktisch unbestritten blieb, jedenfalls, wenn wir die vielen apologetischen, defensiven Bemühungen außer Acht lassen, sie auf die damaligen Juden oder bestimmte Individuen unter ihnen oder auf den Hohenpriester und seine Clique von Kollaborateuren mit Rom einzugrenzen. Es ist ein bedrückender Gedanke, dass es der jüdische Kanon ‑ mitsamt seinem Bann gegen das Studium des Neuen Testaments ‑ gewesen sein könnte, der ein unabhängi­ges, vorurteilsloses rechtliches Hinterfragen des Prozesses Jesu so lange verzögert hat. Doch so verspätet diese Untersuchung auch erfolgen mag ‑ weder die damit verbundenen Schwierigkeiten noch ihre Ergebnisse haben ihre Aktualität eingebüsst.

Hunderte Generationen von Juden sind in der ganzen christlichen Welt für ein Verbrechen bestraft worden, dass weder sie noch ihre Vorfahren begangen haben. Schlimmer noch, jahrhunderte‑, vielmehr jahrtausendelang wurden sie gezwungen, aufgrund des angeblichen Anteils ihrer Vorväter am Prozess und an der Kreuzigung Jesu alle denkbaren Formen der Peinigung, Verfolgung und Demütigung zu erdulden, obwohl es reine Wahrheit ist, dass ihre Vorfahren keinen Anteil daran hatten, sondern alles Menschenmögliche unternahmen, um Jesus, den sie von Herzen liebten und als einen der Ihren verehrten, vor seinem tragischen Ende durch die Hände der römischen Unterdrücker zu bewahren. Wenn man überhaupt einen Funken an Trost für diese Perversion der Gerechtigkeit finden kann, dann in den Worten Jesu selbst: »Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, wenn sie damit lügen. Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden« (Mt 5, 10-12).