Über uns

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Dienstag, 6. April 2004, S. 44

 

"Die Juden können die Kreuzigung Jesu nicht veranlaßt haben"

Von Tora und Talmud lernen:

Ein Anwalt bietet an der Universität Frankfurt Seminare zur Geschichte des jüdischen Rechts an

Die Geschichte klingt absurd: Eine Frau steht auf dem Dach eines Hauses, ihr Angetrauter mehrere Meter unter ihr auf dem Hof. Er wirft ihr ein Stück Papier zu. Es ist die Scheidungsurkunde, ohne die eine Ehe zwischen Juden nicht aufgelöst werden kann. Doch während das Dokument noch durch die Luft segelt, wird es vom Feuer erfaßt und verbrennt. Ist die Ehe nun geschieden? Das ist die große Frage. Eine Spielerei verquer denkender Juristenhirne? Das könnte meinen, wer die Geschichte unvoreingenommen liest.   „Tatsächlich stammt sie  aus dem Talmud, diesem bedeutenden  jüdischen Geschichts- und Gesetzeswerk, das während der ersten fünf Jahrhunderte nach Christus entstand“, sagt Gabriel Miller und schmunzelt. Der Mann muß es wissen, schließlich kennt er sich aus im jüdischen Recht. Er hat in Tel Aviv die Jurisprudenz studiert, kam dann zur Promotion nach Deutschland.  In Frankfurt ist er hängen geblieben und hat sich in der Main-Metropole als Rechtsanwalt niedergelassen. Ganz hinter sich gelassen hat er seine Heimat Israel jedoch nicht. Auch in Tel Aviv betreibt er eine Kanzlei und pendelt zwischen den beiden Städten hin und her.  

Als Sohn eines Rabbiners ist Miller beschlagen in der Historie seines Volkes, die eng mit der jüdischen Rechtsgeschichte verwoben ist. Dieses Wissen weiterzugeben, ist ihm ein Bedürfnis. Deshalb bietet er seit 1996 am juristischen Fachbereich der Universität Frankfurt  Seminare zum jüdischen Recht an. Sein Fach  gehört zu den Exoten und wird auf der Homepage des Fachbereichs Jura als das „besondere Angebot“ erwähnt. Teilnehmen können neben Juristen auch Studenten anderer Fakultäten.

Mit  heiteren Episoden aus dem Talmud will Miller das Interesse an den Wurzeln des  jüdischen Rechts wecken. „Wer in die Welt des Talmud eintaucht, wird erstaunt sein. Die Probleme, die die Menschen damals berührten, sind auch heute noch aktuell“, ist Miller überzeugt. „So setzt sich der Talmud sehr intensiv mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft auseinander“, sagt Miller. Indes  sei der  Talmud wesentlich mehr  als nur ein  Gesetzbuch. Er  spiegele vielmehr die gesamte jüdische Kultur, Wissenschaft und Geschichte bis zum fünften Jahrhundert nach Christus wider. „Die Gelehrten in der damaligen Zeit wußten schon, daß die Erde eine Kugel ist“, erzählt Miller begeistert. Das große Werk diene der Aufklärung über das Judentum. Dabei packe der Talmud auch „heiße Eisen“ an. Als Beispiel nennt Miller die brisante Problematik der  Kollektivschuld und Kollektivverantwortung. Das Thema, das nicht nur die jüngste deutsche Geschichte erheblich belastet habe, sondern auch in der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft diskutiert werde, habe schon vor über 1500 Jahren  die Gelehrten umgetrieben. Die ethischen Gebote und Vorschriften des Talmud, die auf Moses zurückgehen, seien fest im kollektiven Bewußtsein der Juden verankert. „Sie spielen   eine wichtige Rolle im Leben und in der Geschichte Israels“, erzählt Miller.

Aber auch zivil- und strafrechtliche Fragen würden behandelt. So philosphiere der Talmud beispielsweise seitenlang über die Voraussetzungen des Funds. Auch die verschiedenen Arten von Sanktionen würden besprochen. So erführen die Studenten beispielsweise, wie der Diebstahl im Buch Exodus - dem zweiten Buch Moses - geahndet wurde. Im Seminar stellen sie dem alten jüdischen Recht die  Regelungen des heutigen Strafgesetzbuches gegenüber. Überhaupt böten die fünf Bücher Moses - Pantateuch genannt - viel Stoff für rechtsvergleichende Studien. „Sie sind die eigentliche Quelle des jüdischen  Rechts. Denn sie enthalten die Gesetze, die Moses auf dem Berg Sinai von Gott empfangen hat“, erklärt Miller. Sie seien die Grundlage für den Bund Gottes mit Israel. Die Juden sehen die fünf Bücher als Einheit und bezeichnen sie als Tora.

„Nach einem Streifzug durch das jüdische Recht von der Zeit vor der Kodifizierung über die Gesetze Moses und den Talmud bis zu den neueren Gesetzesinterpretationen hat der Student einen Überblick über die jüdische Rechtsgeschichte“,  ist Miller überzeugt. Der Blick für Zusammenhänge sei geschärft. So könnte sich die Leidensgeschichte Christi so, wie sie überliefert ist, nicht ereignet haben. Es gebe zu viele Ungereimtheiten, die nicht ins jüdische Recht der damaligen Zeit paßten. Auch die Kreuzigung sei im Judentum zur Zeit von Jesus  eine völlig ungebräuchliche Form der Todesstrafe gewesen. „Die Juden können die Kreuzigung Jesus nicht veranlaßt haben“, meint Miller und spielt auf den Kino-Film „Die Passion Christi“ an, der augenblicklich äußerst emotional diskutiert wird. Auch deshalb macht sich Miller für die jüdische Rechtsgeschichte stark. Denn wer sie und ihre Hintergründe  kenne, der sei vor Manipulationen durch die Medien gefeit.

KERSTIN LIESEM 

Das nächste Seminar zum jüdischen Recht am juristischen Fachbereich der Universität Frankfurt findet im kommenden Sommersemester jeden Dienstag von 16 bis 18 Uhr in der Neuen Mensa, Raum 123 statt. Die erste Sitzung ist am   20. April. Studierende aller Fachbereiche können teilnehmen. Nähere Informationen zum jüdischen Recht und Gabriel Miller gibt es unter www.juedisches-recht.de